Lüchow - Die kleine Stadt (Gedicht über die Zeit um 1890)

In der Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 3. September 19581 wurde ein Gedicht veröffentlicht:

"Für die Festausgabe zur 800-Jahrfeier ihrer Vaterstadt hat uns (der EJZ) Frau Martha Naumann, die älteste Tochter des früheren Lüchower Bürgermeisters Fritz Hermann, die am 16. Juli ihren 80. Geburtstag feiern konnte, aus dem Schatz ihrer Jugenderinnerungen den folgenden Beitrag in poetischer Form zur Verfügung gestellt. Die alten Lüchower werden diesen Lobgesang auf die kleine Stadt an der Jeetzel sicherlich mit viel Vergnügen und einem leisen Schmunzeln lesen. Das war das Lüchow um 1890, ein idyllisches Abbild der "guten, alten Zeit"."
Die kleine Stadt

Ich kenne ein kleines Städtchen
Von Gärten und Wiesen umkränzt,
Von einem Flüßchen durchschnitten,
Von grünenden Feldern begrenzt.

Der Straßen hat es nicht viele,
Doch sind sie gerade und breit.
Die Fenster der Fachwerkhäuser
Blitzen vor Sauberkeit.

Man geht über viele Brücken,
Denn das Flüßchen fließt hier und dort,
Und blickt durch der Häuser Lücken
Auf manchen idyllischen Ort.

Auf dem Marktplatz stehet das Rathaus
Mit einer hohen Trepp´,
Doch wird hier nicht beraten,
Es dient einem anderen Zweck.

In seinem kühlen Keller
Lagert manch volles Faß,
Und oben sitzet der Bürger
Und labt sich am köstlichen Naß.

Im Laufe vergangner Jahrzehnte
Ist vieles hier geschehn,
Des Hauses großer Tanzsaal
Hat manches Fest gesehn.

Auf hohem Dache die Turmuhr,
Sie kündet Zeit und Stund´,
Und ihre Schläge hallen
Dann weithin in die Rund´.

Das Türmchen dient auch als Ausguck
Der Freiwill‘gen Feuerwehr,
Wenn irgendwo es brennet,
Man sieht‘s hier von weither.

Dann Pferde vor die Spritzen,
Und rasselnd jagen sie fort,
Denn jeder möchte nützen
Und helfen dem brennenden Ort.

Von Fachwerk ein dreistöckig Häusel,
Vor Alter ist es ganz krumm.
Es lehnet sich gegen den Nachbar,
Sonst fiel es vielleicht schon um.

Ein hohes Dach von Ziegeln
Und viele Fenster es hat.
Hier wohnet der Bürgermeister
Und regieret von hier aus die Stadt.

Ein Kloster gibt es im Städtchen,
Doch hausen nicht Nonnen darin,
Es sind die alten Weiblein,
Die haben für alles noch Sinn.

An langem Gange ein Stübchen
Ein jedes von ihnen hat.
Sie sitzen zusammen und schwatzen
Und lesen das Sonntagsblatt.

Doch unter ihren Stuben
Gibt's einen großen Raum,
Dort wird das Leinen gemessen
Von einem zum andern Saum.

Da ruhen die schweren Ballen
Mit Webkant oder Egge,
Und lange Tische sieht man.
Es ist des Städtchens Legge.

Daneben an der Ecke
Da steht ein stattliches Haus,
Es sieht mit seiner Freitreppe
Gar freundlich und einladend aus.

Hier treffen sich die Bürger
Beim Weine und beim Bier,
Und jeder Fremdling findet
Ein gastliches Quartier.

Am Honoratioren-Tische
Wird eifrig politisiert
Und alle Neuigkeiten
Besprochen und kritisiert.

Man nimmt alles unter die Lupe,
Nichts ist zu delikat,
Doch ab und an da drischt man
Auch einen solennen Skat.

Wem mag das Haus gehören
Dort auf der andern Seit´? —
Die Haustür wird geöffnet
Von vielen eiligen Leut´.

Doch ist es Feierabend,
Zum Wirtshause dann geht er,
Man sieht es schon von weitem:
Der würdige Apotheker.

Noch einige Schritte weiter
Da geht die Straß´ bergan
Und gibt für die Jungen im Winter
Eine herrliche Rodelbahn

Man nennt diesen Platz den Schloßplatz,
Obgleich kein Schloß zu seh‘n,
Das stand hier einst vor Zeiten,
Der Turm nur blieb noch steh‘n.

Mit seinen dicken Mauern
Eine schöne Ruin´ fürwahr,
Ein Wahrzeichen des Städtchens
Steht er recht trutzig da.

Verwitterte Steinfiguren
Stehen noch dort und hier,
Und köstliche Früchte reifen
Auf Bäumen und am Spalier.

Auf Beeten und Rabatten
Blüh‘n Blumen leuchtend bunt,
Verfallendes Gemäuer
Gibt von Vergangenheit Kund´.

Von diesem romantischen Plätzchen
Zur Schule ist‘s nicht weit,
Wo die Jugend lauschet dem Lehrer
Und sammelt Gelehrsamkeit.

Von hier kommt man zur Kirche
Mit Fenstern hoch und hell,
Doch vergebens sucht man den Kirchturm,
Der steht an anderer Stell´.

Der würdigen Pfarrherrn Häuser
Sind von der Kirche nicht weit,
In grüne Gärten gebettet
Liegen sie ihr zur Seit.

Und etwas abseits vom Städtchen,
Daß ich‘s vergesse nicht,
Sieht man das einstmals Königlich-
Preußische Amtsgericht.

Ein unscheinbar Gebäude,
Vom Fliederbusch halb verdeckt;
Wird doch so manch´ gewichtiges
Urteil dort vollstreckt.

Was soll ich noch singen und sagen
Von dieser kleinen Stadt,
Die außer manchem Guten
Auch nette Läden hat?

Fürwahr, fast hätt ich‘s vergessen,
Denn einzig in seiner Art
Ist dieses Städtchens gepflegter,
Herrlicher Schützenpark.

Die schönen, alten Bäume
Der langen grünen Alleen
Wölben sich hoch zum Dome,
Fast kann man den Himmel nicht seh‘n.

Und ist man vom Gehen ermüdet
Und möchte noch nicht heim,
So laden Ruhebänke
Dort zum Verweilen ein.

Ein Wirtshaus steht inmitten
Auf grünem Rasenplatz
Dort trinkt man sonntags Kaffee
Mit Frau und Kind und Schatz.

Dem edlen Kegelsporte
Auch huldigt man hier viel.
Die Kegelbahn ist daher
Gar oft des Bürgers Ziel.

Doch wenn zur Dämmerstunde
Man geht die Straß´ entlang,
Dann sitzen Alt´ und Junge
Vorm Hause auf der Bank.

Des Tages Last und Mühen,
Sie sind vorüber nun,
Nach kurzem Plauderstündchen
Läßt es sich köstlich ruh'n.

Und wenn es dann ganz dunkel
Und Türen und Läden zu,
Am Himmel die Sterne funkeln,
Liegt alles in tiefer Ruh´.

Ganz stille ist‘s in den Straßen,
Nur ab und an ein Tritt,
Vielleicht ein später Wand'rer,
Vielleicht des Wächters Schritt?

Im langen schweren Mantel,
Das große Horn zur Seit´,
Stützt er sich auf den Krückstock,
Sein Hund gibt ihm‘s Geleit.

Ich aber, ich muß scheiden,
Mein Weg führt in die Fern´,
Ich darf nicht mehr verweilen
Und tat es doch so gern.

So eil´ ich denn zum Bahnhof,
Das Zügle wartet dort.
Ein schnelles Abschiednehmen,
Ein letztes, liebes Wort.

Ein Pfiff, ein kurzer Ruck,
Schon fahren wir von dannen,
Das Städtchen bleibt zurück,
Es läßt sich nicht mehr bannen.

Wir fahren durch grüne Wiesen,
Über Gräben und Brücken dahin,
Ich kann es nicht beschreiben,
Mir ist so eigen zu Sinn.

Ich trete ans offene Fenster
Und richte den suchenden Blick
Noch einmal in die Gegend
Zum fliehenden Stadtbild zurück.

Da sehe ich noch die Kirche,
Den Turm, ein hohes Haus,
Dann schwindet auch das in der Ferne ---

Der Traum von der Kleinstadt ist aus.
1. Elbe-Jeetzel-Zeitung, 03.09.1958, Seite 32 ↩
Archiv-ID: 4309101
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